Als Videojournalist für IKRK-Serie im Einsatz: «Ich wollte hinter die Klischees und Vorurteile blicken»
Niccolò Castelli war für die DOK-Serie «Zwischen den Fronten – IKRK Delegierte im Einsatz» als Videojournalist in Afghanistan unterwegs. Was hat er dabei erlebt? Wie waren die Arbeitsbedingungen? Und welchen Einblick gewährte ihm das Internationale Komitee vom Roten Kreuz IKRK vor Ort? Dies und mehr verrät er im Interview mit SRG Insider.
...über die Vorbereitungen:
Wie kamst du dazu, als Videojournalist an der IKRK-Serie von SRF mitzuwirken?
Für den italienischsprachigen Fernsehsender RSI habe ich schon einige Dokumentarfilme produziert. Als SRF mich auf das IKRK-Projekt angesprochen hat, war mir schnell klar, dass ich daran teilhaben will. Ich wusste zwar noch nicht, wie das Projekt im Detail aussehen wird. Jedoch war die Aussicht auf eine Serie mit IKRK-Delegierten zu spannend, um dieses Angebot auszuschlagen.
Du hast am Anfang also noch nicht gewusst, dass du nach Afghanistan gehen wirst?
Nein. Denn es war zunächst noch offen, wer die Hauptprotagonisten auf Seiten des IKRKs sein werden. Anfang 2013, etwa drei Monate vor Drehbeginn, wurde ich dann angefragt, ob ich bereit wäre, nach Afghanistan zu gehen. Das war ich.
Wie bereitest du dich jeweils auf Dreharbeiten im Ausland vor?
Das Wichtigste bei Dokumentarfilmen ist es, das Vertrauen der Leute zu gewinnen. Hierfür muss man der Kultur des Ortes, den man bereist, mit Respekt begegnen. Du kannst den Zugang zur Kultur nur finden, wenn du vorbereitet bist, etwas über das Land und die Menschen vor Ort weisst.
Kann und soll man sich überhaupt auf alle möglichen und unmöglichen Situationen bei einem Auslanddreh vorbereiten?
Nein, ganz im Gegenteil. Ich finde es sehr wichtig, neugierig und offen zu sein und nicht zu viele Vorurteile zu haben. Denn sonst hast du nur Augen für diese Vorurteile und drehst nur Szenen, welche diese Klischees bestätigen. Und das ist meiner Ansicht nach falsch. Ich will hinter die Klischees und Vorurteile blicken und zeigen, wie die Realität aussieht.
Wie hast du dich im Speziellen auf Afghanistan vorbereitet?
Ich habe mich viel mit der Geschichte und Kultur von Afghanistan beschäftigt. Ausserdem habe ich Bücher von Leuten gelesen, die lange in Afghanistan waren und über die unterschiedlichsten Dinge berichteten. Dabei ging es beispielsweise um Künstler oder Skater in Kabul. Das hat meine Neugierde geweckt.
Was hast du bei den Vorbereitungen über die Kultur gelernt?
Dabei habe ich sehr Wichtiges gelernt. Zum Beispiel gibt man in Afghanistan den Frauen nicht die Hand. Wenn du das nicht weisst und in den ersten zwei Minuten allen Frauen die Hand schüttelst, verlierst du den Respekt der Leute, mit denen du drehst, sofort.
...über die Dreharbeiten vor Ort:
Was waren besondere Herausforderungen vor Ort?
Es ging bei meinem Job in Afghanistan zu einem grossen Teil um die Organisation und nicht nur ums Drehen. Insgesamt war ich etwas mehr als 30 Tage in Afghanistan. Explizit gedreht habe ich an rund 80 Prozent dieser Tage, an manchen davon nur etwa fünf Minuten. Den Rest des Tages war ich mit Abklären, Planen oder auch dem Einbringen von eigenen Dreh-Vorschlägen beschäftigt.
Auf welche Szenen bist du besonders stolz?
Einen Tag lang habe ich in Kabul mit Frauen gedreht. Das klingt jetzt nicht sehr spektakulär. Jedoch ist das Filmen von und mit Frauen in Afghanistan kompliziert. Du benötigst ihr Vertrauen. Und sie müssen ihre Männer um Erlaubnis fragen, ob sie überhaupt gefilmt werden dürfen. Du kannst solche Szenen nicht spontan drehen, sondern es braucht einige Zeit, so etwas zu organisieren.
Wie warst du in Afghanistan unterwegs? Konntest du dich frei bewegen?
Nein, es lief immer alles über das IKRK. Wir nutzten auch ausschliesslich IKRK-Fahrzeuge. Wenn wir beispielsweise aus der Stadt fuhren, waren wir aus Sicherheitsgründen immer mit zwei Autos unterwegs. Denn auch wenn ein Auto eine Panne hat, müssen die Delegierten sofort weiterfahren können. Ein paar Mal nutzen wir zudem ein Flugzeug vom IKRK. Dies, um von Kabul aus in andere Orte zu gelangen, die über die Strassen nur schlecht erreichbar waren oder aber, weil die Fahrt mit dem Auto schlichtweg zu gefährlich gewesen wäre.
Wie war es, in Afghanistan zu drehen?
Ein grosser Unterschied zwischen Dreharbeiten in der Schweiz und in Afghanistan besteht darin, wie oder was du filmen kannst. Hier in der Schweiz kannst du mehr oder weniger filmen, was du willst. Aber wenn du in Krisengebieten wie Afghanistan drehst, dann ist das anders.
Hast du uns ein konkretes Beispiel?
Am ersten Tag in Afghanistan habe ich von einem Hügel aus gefilmt, von dem man über ganz Kabul blickt. Im Hintergrund näherten sich zwei Militärfahrzeuge, die ich mitgefilmt habe, ohne es zu bemerken. Nur fünf Minuten später waren die Offiziere bei mir und wollten die Datenträger beschlagnahmen. Man muss also gut aufpassen, was oder wen man filmt.
Waren die Dreharbeiten auch technisch anspruchsvoller als üblicherweise?
Man hat deutlich weniger Zeit für die Vorbereitung. Es ist mehr «Rock`n`Roll.» Du kannst aus Sicherheitsgründen beispielsweise nicht eine halbe Stunde lang an einer Strassenkreuzung filmen, sondern maximal drei Minuten. Es muss alles schnell gehen und du musst die Kamera sofort bereit haben.
...über die sprachlichen Barrieren:
Was waren andere Herausforderungen vor Ort, mit denen du dich herumschlagen musstest?
Eine Schwierigkeit ist sicherlich die Sprache. Wenn ich ohne Dolmetscher mit Einheimischen gedreht habe, die ich nicht verstand, war es nicht immer ganz einfach, die Situation passend zu filmen.
Einmal gab es beispielsweise eine super Überraschung. Ich habe zurück in Zürich dank dem Übersetzer erfahren, dass ich per Zufall ein wunderbares Gespräch gefilmt habe. Und dann wiederum habe ich Situationen gefilmt, die ich für genial hielt, die inhaltlich aber völlig uninteressant waren.
...über kritische und schöne Erlebnisse vor Ort:
Was war das kritischste Erlebnis, das du während der Dreharbeiten erlebt hast?
Während eines Basketball-Turniers, bei welchem Rollstuhlfahrer gegeneinander antraten, erlebte ich einen Moment, der alles durcheinander brachte. Denn auf einmal hörten wir aus einigen Kilometern Entfernung eine Explosion. Wir mussten daraufhin sofort alles zusammenpacken und ins Gebäude fliehen.
Gab es noch weitere solcher Schreckmomente?
Ja. Das war der Tag, an dem wir von den Attacken auf das IKRK-Büro in Dschalalabad gehört haben, das einige Kilometer von Kabul entfernt liegt. Dabei wurde eine Wache des IKRK tödlich verletzt. Das war auch für mich sehr schlimm und traf mich persönlich. Auch in meinem Job als Videojournalist war die Situation schwierig. Denn ich sollte das Geschehen dokumentieren. Gleichzeitig habe ich aber Zeit mit diesen Leuten verbracht und hatte daher keine Lust, in diesem Moment die Kamera herauszunehmen.
Was war das schönste Erlebnis während der Dreharbeiten?
Die meiste Zeit in Afghanistan habe ich in einem Orthopädiezentrum in Kabul gedreht. Wenn du dort siehst, wie Leute mit Krücken ins Orthopädiezentrum kommen und später aufrecht und ohne Gehhilfen wieder raus gehen, ist das unglaublich beeindruckend. Du siehst «persone mettere in piedi altre persone»; Leute, die wortwörtlich wieder auf die Beine kommen.
Ein weiteres tolles Erlebnis erlebte ich mit Najmuddin – der Hauptprotagonist meiner Dreharbeiten – im Panjshir valley. Dort spürst du nichts vom Krieg. Es ist ein grünes Tal mit einem wunderschönen Fluss; ein Tal, das vom Krieg verschont bleibt. Nach so vielen Drehtagen, an denen du kaum Freiheiten hattest und du immer nachfragen mussest, ob du irgendwo hin gehen kannst, fühlten wir uns endlich wieder frei. Das war unglaublich schön.
...über sein Fazit:
Was nimmst du vom IKRK-Projekt in Afghanistan mit? Und was hast du über Afghanistan gelernt?
Afghanistan verfügt über eine sehr grosse Kultur und eine enorme Vielfalt. Ich habe die Schönheit dieser Vielfalt zu schätzen gelernt. Ich durfte Menschen aus Afghanistan persönlich kennenlernen. Und ich habe gesehen, dass die Kultur und Schönheit des Landes immer noch spürbar ist, obwohl der Krieg zurzeit vieles davon überdeckt.
Zur «DOKI»-Serie «Zwischen den Fronten - IKRK Delegierte im Einsatz»
Niccolò Castelli, 31, ist freischaffender Regisseur aus Lugano. Als Videojournalist war er für die Serie über das Internationale Komitee vom Roten Kreuz IKRK rund 30 Tage lang in Afghanistan unterwegs, hauptsächlich in Kabul. Dort steht auch das Orthopädiezentrum IKRK, an dem Niccolò Castellis Hauptprotagonist Najmuddin als Direktor angestellt ist. Insgesamt war Niccolò Castelli fast ein Jahr lang mit dem IKRK-Projekt beschäftigt.
Interview: SRG Insider/Sarah Singer
Bilder: SRF/Niccolò Castelli; SRF/Screenshot
Video: SRF
Kommentar